"Behindertensport: Behinderte? Oder Sportler?"

APA-Science - Wirkliche Top-Leistungen im Spitzensport sind ohne sportwissenschaftliche Unterstützung kaum noch möglich. Wie Wissenschafter in Österreich an Spitzenleistungen mittüfteln, wie Sensoren und andere Technologien entscheidenden Feinschliff verschaffen können, wie Freizeitsportler von all dem Know-how profitieren und wo die Grenzen und Schattenseiten der Leistungsoptimierung liegen, hat sich APA-Science näher angesehen. Christoph Etzlstorfer verfasste einen Gastkommentar mit dem Titel "Behindertensport: Behinderte? Oder Sportler?"

Letzten September trugen in Rio de Janeiro im Rahmen der 16. Paralympics 4.350 Athleten, davon 27 aus Österreich, aus 176 Nationen in 23 Sportarten Wettkämpfe aus. Noch mehr als die Olympischen Spiele wenige Wochen zuvor bildet diese Veranstaltung den Höhepunkt vieler sportlicher Karrieren. Aus diesem Anlass wird mehr in den Medien berichtet als in den gesamten vier Jahren dazwischen.

Für die Teilnahme durchlaufen die Sportler einen harten Qualifikationsprozess. Konsequentes Training von Ausdauer, Kraft und Koordination zwei Mal pro Tag über viele Jahre ist erforderlich. Im Winter spulen Handbiker und Leichtathleten ihr Training "auf der Rolle" oder im Süden Europas oder der USA ab. Material wie Rennrollstühle, Handbikes und Prothesen sind auf dem letzten Stand der Forschung.

Nicht selten machen dabei geniale Tüftler den großen Firmen Konkurrenz. So kamen die Handbikes der beiden österreichischen Medaillengewinner von einem Konstrukteur aus dem Innviertel in Oberösterreich. Carbon ist der Werkstoff der Wahl und treibt die Preise in unglaubliche Höhen. Sportrollstühle sind kaum unter 6.000 Euro zu haben und werden in Europa, den USA oder Japan gefertigt. Handbikes mit mobilem Leistungsmesssystem und elektronischer Schaltung kosten 12.000 bis 14.000 Euro. Der Trainingsfortschritt wird über Leistungstests (Laktat- und Spiroergometrie in Linz und Salzburg) verfolgt und durch biomechanische Untersuchungen (am FH Technikum Wien) ergänzt.

Die Feinabstimmung von Material, Bekleidung und Sitzposition erfolgt im Windkanal an der Technischen Universität in Graz. Physiotherapeuten, Masseure und Ernährungsberater verkürzen die Regenerationszeiten und beugen Überlastungen vor. Mentaltrainer unterstützen in der Vorbereitung und beim Wettkampf. Kurz, es wird jeder nur erdenkliche Aufwand betrieben, um die eigenen Grenzen hinauszuschieben. Dies ist der eigentliche Antrieb. Die Medaillen sind das äußerliche Zeichen des Erfolgs, dem für kurze Zeit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit folgt.

Im Leistungssport unterstützen Vereine und Verbände, teilweise die Veranstalter der Wettkämpfe. Sponsoren, Sporthilfe und andere Institutionen tragen dazu bei, dass die Kosten für Vorbereitung und Material finanzierbar bleiben. Als Medaillengewinner bei WM und Paralympics kann man die Aufwendungen des Sports abdecken. Anfänger oder Hobbysportler beginnen mit gebrauchtem Material ab 1.500 Euro. Weil die Geräte in Abhängigkeit von Körpermaßen und Ausmaß der Behinderung gefertigt werden, ist es Glückssache, passendes aus zweiter Hand zu finden.

Die Teilnahme an Paralympics hängt von vielen Faktoren ab. In weniger hoch entwickelten Ländern hat man mit einer Querschnittslähmung nach wie vor kaum eine Überlebenschance. Die Sportausübung von Menschen mit Behinderung muss gesellschaftlich anerkannt sein und gefördert werden. Als Rollstuhlfahrer im unwegsamen Gelände ohne asphaltierte Straßen hat man andere Sorgen als Sport. Und wenn Überleben, Finanzierung des Alltags, Training, Ausrüstung gesichert sind, kommt es entscheidend auf die Art und den Grad der Behinderung an.

Gerade letzteres rückt immer mehr ins Zentrum. Sportler mit starken Behinderungen werden in den Hintergrund gedrängt, weil ihre Behinderungsklassen dem Streben nach Übersichtlichkeit und Vermarktbarkeit zum Opfer fallen. Im Rahmen der Inklusionsbestrebungen wandert die Zuständigkeit aus dem Aufgabenbereich des Behindertensportverbandes zu den jeweiligen Fachverbänden. Dort fehlt oft das Know-How über den Einfluss der Einschränkungen auf die Trainierbarkeit. Daher ist man in erster Linie an Sportlern interessiert, die sich noch gut bewegen können, bei denen die Adaptierungen klein sind. Diese "Super-Behinderten", oder wie es bei den Paralympics 2012 in London hieß, "Super-Humans", prägen das Bild des Behindertensports in den Medien.

An der Basis geht es meist um Sport für Menschen mit sehr schweren Einschränkungen. Für sie ist nicht der Gewinn einer Medaille wichtig, sondern die Erhaltung von Gesundheit und Fitness, die Freude an der Bewegung sowie das gemeinsame Erlebnis in der Gruppe. Das Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung ist für Menschen mit Behinderung deutlich erhöht. Ein Rollstuhlfahrer bewältigt sein alltägliches Leben mit der Kraft seiner Arme, ohne die er auf fremde Hilfe angewiesen ist. Somit ist Fitness nicht nur Lifestyle, sondern ein aktiver Beitrag zu Unabhängigkeit und Lebensqualität. Für diese Art von Sportausübung fehlen neben dem Bewusstsein für die Notwendigkeit und dem Wissen um die Durchführung auch die Vorbilder, die Menschen ohne Behinderung zum Teil in Arbeitskollegen oder Nachbarn finden.

Für Behindertensportler steht nicht die Behinderung im Vordergrund. Die daraus resultierenden Einschränkungen und Widerstände im Alltag haben sie nach Durchleben einer mehr oder weniger schweren Krise längst akzeptiert. Nicht um die Schwächen geht es, sondern um die Fähigkeiten, mit denen sie Sport treiben. Das ergibt ein anschauliches Beispiel für das Leben ganz allgemein. Schwächen erkennen und akzeptieren, aber Konzentration auf die individuellen Stärken heißt das Motto. Eng verbunden ist dies mit einer Haltung, sich nicht als Opfer des Schicksals zu fühlen, sondern im Rahmen der persönlichen Rahmenbedingungen, die auch das Umfeld einschließen, für das eigene Leben verantwortlich und zuständig zu sein. Das ist nicht einfach, erfordert Zeit und Energie, verhilft aber langfristig zu einem erfüllten und zufriedenen Leben.

Christoph Etzlstorfer, Sport-Experte und Paralympics-Sieger
Dr. Christoph Etzlstorfer: Trainer von österreichischen und internationalen Athleten; Absolvent der Sportakademie Linz, Fortbildungen im In- und Ausland; Paralympics Sieger, Teilnehmer an acht Paralympics (1984-2012), Sportler des Jahres; Studium Wirtschaftsingenieurwesen Technische Chemie; Referent zu Sportthemen (u.a. FH für Gesundheitsberufe, Bundessportakademie); Referent für die Wirtschaft zum Themenbereich Motivation, Erfolg, Umgang mit Krisen und Rückschlägen.

Gastkommentar vom 27.02.2017
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